„Heilung braucht Zuwendung und Vertrauen“


Dem Mann aus Bochum flogen die Herzen nur so zu: Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, der bekannte Radiologe, der auch jahrelang eine eigene TV-Show hatte, wirkte wie ein Magnet weit über die Grenzen des Hochtaunus hinaus. Beim Neustart der „Usinger Blickpunkte“, in der sich in dieser Saison alles um das Thema „Gesundheit“ dreht, wurde Stuhl um Stuhl rasch noch dazu platziert. Letztlich füllten am Donnerstagabend mehr als 400 Menschen den Christian-Wirth-Saal auf dem Schlossgarten-Campus, manche waren extra aus Frankfurt oder Limburg angereist, um das Gespräch rund um Grönemeyers Vorstellung von ganzheitlicher Gesundheit live erleben zu können.
Bewegung und Präsenz
„Mit einem solchen Andrang haben wir nicht gerechnet“, freute sich Birgit Wehner, Leiterin der KEB Hochtaunus und Mitveranstalterin des Abends. Der Drang nach persönlicher Begegnung und menschlicher Zuwendung war im Saal geradezu körperlich spürbar, als der Arzt sein Publikum erst einmal mit einer sportlichen Übung in Schwung brachte. Beruhigend für die Mehrheit der Anwesenden, dass auch er nach einem kurzen Sprint auf der Stelle im anschließenden Gespräch mit dem Moderator Meinhard Schmidt-Degenhard deutlich außer Puste war.
Den Menschen ganzheitlich betrachten
Leicht verständlich und mit Fachwissen aus der täglichen Praxis bemängelte der Radiologe gleich eingangs, dass die Rolle des Hausarztes in den vergangenen Jahren unter ökonomischen Zwängen immer weiter abgenommen habe. Früher sei der Hausarzt über alle Details, familiäre Hintergründe, berufliche Sorgen usw. informiert gewesen. Als eine echte Vertrauensperson konnte er als Generalist etliche Erkrankungen behandeln, so Grönemeyer. Heute sei die Medizin jedoch ausschließlich körperorientiert, der Mensch werde nicht mehr als ganzheitliches und komplexes Wesen wahrgenommen, sondern im Gesundheitssystem wie eine Maschine gesehen, die repariert werden müsse. Zudem sei die Bezahlung der Hausärzte ein echtes Desaster. „Eine Frage an die Handwerker hier im Raum – würden Sie für eine Pauschale von 30 Euro im Quartal zu mir kommen und arbeiten?“, fragte der emeritierte Professor in die Runde, was mit Gelächter quittiert wurde. Er plädierte dafür, eine Stunde Gespräch mit dem Hausarzt ebenso zu honorieren wie eine fachärztliche Untersuchung, beispielsweise mittels Computertomografie. „Herzschmerz kann man nicht im Kernspin sehen, dafür braucht es das Gespräch zwischen zwei Menschen“, betonte Grönemeyer.
Gut zu sich und anderen sein
Viele Erkrankungen hätten seelische Dimensionen, die man in den Blick nehmen müsse. Aus seiner Praxis könne er sagen, dass Rückenschmerzen zum Großteil von Muskelverspannungen verursacht werden, zu rund zwanzig Prozent aber eigentlich auf versteckte Depressionen zurückzuführen sind.
Für eine moderne Medizin sei unbedingt auch ein aufgeklärter, selbstverantwortlicher Patient notwendig. „Turne bis zur Urne“, riet Grönemeyer dem Publikum. Ebenso müsse jeder und jede selbst auf eine individuell passende Ernährung achten. Wenn man den ersten Tipp hinsichtlich der Bewegung beachte, könne man auch dem Rat einer 110-jährigen ehemaligen Patientin des Bochumers folgen. Deren Geheimnis für ein langes Leben war es, jeden Tag ein Stück Kuchen zu essen. Damit gehe einher, es gut mit sich selbst zu meinen, sich selbst zu lieben und es sich gemütlich zu machen. Darin stecke auch das Wort „Mut“ und davon brauche es auch eine gehörige Portion im Leben. Nämlich Mut und Nächstenliebe, auch andere auf dem Weg mitzunehmen, denen es nicht so gut gehe. Die Selbstliebe gehe aber auch mit der Fähigkeit zur Eigenkritik einher. Sich selbst auch mal in Frage stellen zu können, eigene Handlungen kritisch zu reflektieren, das sei keinesfalls eine Frage des Alters, sondern habe mit der inneren persönlichen Haltung zu tun. Leben bedeute nun einmal ein andauerndes „Sich-Entwickeln“, auch, um sich mit den Widrigkeiten des Daseins versöhnen zu können.
Medizinische Teams statt Dogmatismus
Künftig solle sich die medizinische Versorgung dahin entwickeln, dass sich die unterschiedlichen Disziplinen nicht dogmatisch gegeneinander stellen. Ein Patient solle sich bestenfalls von einem Team versorgen lassen. Dieses Team bestehe laut Grönemeyer aus schulmedizinisch und naturheilkundlich versierten Allgemeinmediziner, Krankenpflegern, Physiotherapeuten, Ernährungswissenschaftlern, Apothekern und auch psychosomatischen Therapeuten. Gemeinsam mit dem Patienten könne man auf Augenhöhe zusammenarbeiten um eine ganzheitliche Versorgung zu realisieren. „Wir würden alle nicht mehr leben und nicht hier sitzen, wenn wir Medizin nicht als Kulturgut begreifen würden. Heute dominiert aber eine Apparatemedizin“, warf der Radiologe provokant in den Raum. „Ohne Seelsorge ist Medizin aber keine Medizin“, fuhr er fort.
Seelsorge ist wichtig
Ärzte seien von jeher immer auch Seelsorger, aber leider lerne man heute nicht mehr, dass alles Leben auch immer den Tod in sich trage. Aus Sicht des Mediziners könnten die Kirchen heute „ganz viel damit punkten, wenn sie Anlaufstelle und Begleitung bei der Bearbeitung von Ängsten wären“.
Nach gut zwei Stunden Gespräch hatte Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer auch noch Zeit, Fragen aus dem Publikum zu beantworten. Unter vier Augen gab er abschließend noch individuelle Behandlungstipps und medizinische Hinweise, nachdem er sich in das Goldene Buch der Stadt Usingen eingetragen hatte.
Zum Thema „Gesundheit“ sind weitere Veranstaltungen in der Reihe „Usinger Blickpunkte“ geplant. Die Termine werden rechtzeitig bekannt gegeben. Die Veranstaltung wurde ermöglicht in Zusammenarbeit von KEB und der Stadt Usingen, mit freundlicher Unterstützung des Lions Club Usingen-Saalburg.
